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Boring is the new brave

Es muss richtig viel passieren, damit nichts passiert. Warum wir mit aller Kraft dafür kämpfen müssen, möglichst langweilig zu sein und warum der Terror unverhältnismäßig im Vorteil ist.

Wir Menschen sind nicht besonders gut darin, das Für und Wider von Handlungen in Ruhe, besonnen und gelassen abzuwägen und uns dann bewusst für eine vielversprechende Option zu entscheiden. Wir sind noch schlechter darin, wenn wir entgegen unserer urinnersten Instinkte handeln sollen.

Da geht uns nicht anders als den Tintenfischen.

Hinzu kommt: „We Learn Nothing“, um es mit Tim Kreiders Worten zu sagen. Wir lernen nicht dazu. Und schon erst recht lernen wir nichts aus den Erfahrungen anderer.

Da können KZ-Überlebende drei deutschen Generationen erklären, wie verflucht heiß die Herdplatte ist, wir müssen trotzdem dranpatschen.

Uns in die Situation anderer zu versetzen ist uns eine solche Mühsal, dass wir nur zu schätzen wissen, was wir selbst geschaffen haben. Die Errungenschaften anderer, auf denen unsere Erfolge fußen, nehmen wir als naturgegebene Ressource hin – oder schlimmer noch: gar nicht als solche wahr.

Mit dem Arsch reißen wir ein, …

…wofür andere gekämpft haben, worauf wieder andere neidvoll blicken und woran wir uns als Standard längst gewöhnt haben.

  • Frieden.
  • Die Möglichkeit, quer durch Europa zu reisen, ohne ein Visum vorzeigen oder sich erst passendes Kleingeld in die Landeswährung wechseln zu müssen.
  • Entsetzlich flapsige Bemerkungen ausrufen zu dürfen, ohne willkürlich festgenommen zu werden.
  • Für seine Sache streiten zu dürfen.
  • Davon ausgehen zu können, dass die Gesetze in unserem Land im Großen und Ganzen in Ordnung gehen, weil bei ihrer Erstellung die Gegenseite gehört wurde und die Justiz als Korrektiv funktioniert.
  • Als Opfer von Betrug oder Gewalt nicht meistbietend einen Schlägertrupp organisieren zu müssen, sondern in Gerichtsverfahren und durch die Polizei Gerechtigkeit erfahren zu können – selbst dann, wenn man mit einem „FCK CPS“-Jutebeutel durch die Gegend vagabundiert.
  • Die regelmäßige und daher längst einkalkulierte Gehaltserhöhung.
  • Dass der Bus fährt.

Wir sind also geneigt, unsere teure freiheitliche, demokratische Grundordnung zu opfern, ohne zu ahnen, was wir dafür bekommen – Hauptsache, es passiert endlich mal was. „Schließlich muss man da doch endlich mal was unternehmen“, erregen wir uns.

Trotz der Erfahrungen des Deutschen Herbsts und der Erkenntnisse aus dem „Kampf gegen den Terrorismus“ wirken wir im Umgang mit Terror pubertär unerfahren.

Diejenigen, die zur Gelassenheit raten, einer der wenigen sinnvollen Maßnahmen, werden schnell überhört und als herzlos verschmäht, weil zu kühl, zu rational, zu passiv.

David Grossman – Dr. Sommer des Coming of Rage

Daher lohnt es sich, für eine Sekunde jemandem zuzuhören, der mit terroristischen Anschlägen so unendlich viel mehr Erfahrungen hat als wir in Deutschland. Im Interview mit dem Deutschlandfunk spricht der Israeli David Grossman diese großartigen Worte:

„Die Macht des Terrors besteht darin, dass er nur ganz wenig tun muss, um die Stimmung in einer gesamten Bevölkerung zu verändern, so dass sich über Nacht die Menschen umbesinnen.

Sie werden es nach wenigen Terroranschlägen sehen: Dann greift der Rassismus um sich. Und genau das wollen die Terroristen erreichen. Sie wollen das Gewebe der Gesellschaft auflösen und zerstören.

Sie wissen ja, wenn sie in Deutschland oder Frankreich Anschläge verüben, dann ermuntern sie die Wählerschaft geradezu, eine radikalere Regierung zu wählen. Und wenn dann eine ausgesprochen rechtsextremistische Regierung die Oberhand gewinnt, dann spüren die Mehrheitsmuslime, die moderaten Muslime, dass sie mehr und mehr von der Teilhabe an der nationalen Identität ausgeschlossen werden, ob nun hier in Deutschland oder in Frankreich.

Und weil sie von der nationalen Identität zunehmend ausgeschlossen werden, wenden sie sich der religiösen Identität zu, ja zu fanatischen oder fundamentalistischen Identitäten, und das wiederum facht dann zusätzlich den Terror an.“
Der israelische Schriftsteller David Grossman im Deutschlandfunk

Das gesamte Interview ist lesens- bzw. hörenswert, denn es zeigt uns, dass wir in einem solchen Teufelskreis unendlich viel mehr Stärke aufbringen müssen, um unsere freie Gesellschaft zu schützen, während es Angst und Schrecken ein Leichtes ist, uns unsere Freiheit selbst abschaffen zu lassen.

Lasst uns also den Mut beweisen, langweilig statt hysterisch zu sein. Das wird anstrengend genug. Vielleicht lernen wir ja doch was…

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